100 Miles im Dezem­ber 2021 — mein per­sön­li­cher weg aus der pandemie

100 miles

Sandra Mastropietro

31. Dezember 2021

100 Miles to Go — Ein ganz kur­zer und sehr ehr­li­cher Bericht von ganz gro­ßer Langstreckenliebe!

„Man liebt das, wofür man sich müht, und man müht sich für das, was man liebt.“ 

Erich Fromm

100 Mei­len. Das sind 160,934 Kilo­me­ter. Also eine ver­dammt lan­ge Distanz. Etwa vom Süden Mün­chens bis kurz vorm Bren­ner, dem ita­lie­ni­schen Grenz­über­gang. War­um soll­te man die­sen Weg zu Fuß zurück­le­gen, ver­rück­ter­wei­se auch noch am Stück?

Eine Fra­ge, deren aus­führ­li­che Erör­te­rung den Rah­men die­ses Berich­tes spren­gen wür­de. Daher fol­gen­de Kurz­ver­si­on: Weil der mensch­li­che Kör­per ein Wun­der­werk und eine ‑bei rich­ti­ger Pfle­ge- schein­bar unver­sieg­ba­re Quel­le von Kraft ist. Weil es unglaub­lich ent­span­nend, ja gar “hei­lend” sein kann, vie­le, vie­le Schrit­te nach­ein­an­der zu set­zen. Wei­ter, ein­fach immer wei­ter. Mit kla­ren Regeln, kla­ren Zie­len und einem kla­ren Mit­ein­an­der — also genau dem, was vie­len von uns in den letz­ten zwei Jah­ren gefehlt hat: Klar­heit. Und genau um die­se Klar­heit (wie­der) zu erlan­gen und ent­spre­chend mit dem Cha­os im Kopf und Her­zen auf­zu­räu­men lief ich am 18.Dezember 2021 die 100 Mei­len Distanz beim Bel­lo­Gal­li­co in Belgien. 

Sams­tag, 18.12.21 um kurz vor 4 Uhr mor­gens: Wett­kampf­luft! End­lich wie­der! Ich habe den Duft nach zu dün­nem Fil­ter­kaf­fee, ner­vö­sen Mägen und Lat­schen­kie­fer wirk­lich ver­misst.  Gewu­sel: Schu­he bin­den, auf der Stel­le hüp­fen, um zu sehen ob auch alles sitzt…RaceModus! Also, zumin­dest inso­fern man von einem sol­chen am Start eines 100 Mei­len Ren­nens davon reden kann. Wäh­rend der Renn­lei­ter letz­te Stre­cken­de­tails bekannt gibt und uns auf kräf­te­zeh­ren­de Bedin­gun­gen durch extre­men Matsch hin­weist, rich­ten sich die Kegel der Stirn­lam­pen stur in die Dun­kel­heit. Die Armee ist mehr als bereit zu lau­fen, zu mar­schie­ren, zu lei­den, zu füh­len

kurz vor dem Start

“Three…Two…One… Good Luck!” sind die Wor­te, die den Tross in Bewe­gung set­zen. Einen Schritt nach dem ande­ren. Immer wie­der. Die für mich schöns­te Mono­to­nie über­haupt. Kal­te, kla­re Nacht­luft füllt mei­ne Lun­gen, der Duft von Moos und Wald mei­ne Nase. Glück, pures Glück durch­strömt mei­nen Kör­per. Lau­fen, nichts als Lau­fen — und das tun mei­ne Bei­ne gera­de ganz von selbst, im Rhyth­mus der Stö­cke am Boden und der Musik aus den Kopfhörern.

Mein Han­dy ist auf Flug­zeug­mo­dus und ich zele­brie­re den Luxus der Uner­reich­bar­keit, wäh­rend das Dun­kel der Nacht lang­sam dem Grau des Mor­gens weicht. Ein Läu­fer nährt sich von hin­ten, ruft eupho­risch schmat­zend “Good Mor­ning young Lady, first night over — what for break­fast?” Ich muss lachen. Auf die Fra­ge nach dem Früh­stück war ich defi­ni­tiv nicht vor­be­rei­tet und über­haupt; man ist es ja auch gar nicht mehr gewöhnt so unbe­darft mit Men­schen ins Gespräch zu kom­men. Schnell kra­me ich einen Rie­gel aus mei­nem Ruck­sack und pros­te ihm damit zu. Wir sto­ßen an und früh­stü­cken mit­ein­an­der, ver­su­chen uns zu ver­stän­di­gen. Er spricht kein eng­lisch oder deutsch, ich kein fran­zö­sisch oder nie­der­län­disch; klappt trotz­dem. Wo ein Wil­le, da ein Weg: im Leben wie im Ultralaufen. 

Alle 20 Kilo­me­ter wer­den wir „gefüt­tert“; sprich: Kom­men wir an eine Ver­pfle­gungs­sta­ti­on: und die las­sen sich sprich­wört­lich „Nicht lum­pen“. Käse-Sand­wi­ches, Wraps (auf Wunsch sogar vegan), Kür­bis­sup­pe oder (vege­ta­ri­sche) Hot-Dogs. Ich schlem­me, las­se mir an den Sta­tio­nen viel Zeit und stel­le bei Kilo­me­ter 60 fest, dass ich noch nicht ein Gel ver­wen­det habe. Apro­pos Kilo­me­ter 60. 

Hier bege­be ich mich zum ers­ten Mal auf die Prit­sche der Medi­cals und las­se mei­ne Bla­sen abta­pen. Regen ist zwar mei­ner Mei­nung nach bes­tes Lauf­wet­ter, aber auch die bes­ten Socken kön­nen bei knö­chel­ho­hen Matsch­pfüt­zen die Rei­bung der Sand­körn­chen zwi­schen den Zehen nicht vermeiden. 

100 Kilo­me­ter to Go. Bis auf die Bla­sen habe ich kei­ne Aus­fall­erschei­nun­gen, und auch wenn die Aus­sicht auf wei­te­re hun­dert Kilo­me­ter im Matsch mit bereits meh­re­ren Bla­sen nicht die ange­nehms­ten sind, bin ich guter Din­ge und muss unwill­kür­lich an Erich Fried denken:

„Es ist Unsinn – sagt die Vernunft

Es ist was es ist – sagt die Liebe

Es ist Unglück – sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz – sagt die Angst

Es ist aus­sichts­los – sagt die Einsicht

Es ist was es ist – sagt die Liebe

Es ist lächer­lich – sagt der Stolz

Es ist leicht­sin­nig – sagt die Vorsicht

Es ist unmög­lich – sagt die Erfahrung

Es ist was es ist – sagt die Liebe“

Ja, denn wäh­rend um mich her­um lang­sam schon wie­der Nebel und Dun­kel­heit ein­set­zen, lich­ten sich mei­ne Gedan­ken mit jedem Schritt mehr und mein pan­de­mie­ge­plag­tes Gemüht erhellt sich. Ich spü­re sie ganz genau: Die Lie­be zum Lau­fen, zum lan­gen, ganz lan­gen Lau­fen. Zum Extre­men. Ich spü­re das Krib­beln der Eupho­rie in mei­ner Magen­gru­be, wäh­rend die „To Go“ Kilo­me­ter­an­zahl abnimmt, irgend­wann zwei­stel­lig und dann gar ein­stel­lig wird. 

Die Nacht ist kalt und klar, der Wind pfeift über die Fel­der, mei­ne Fin­ger­kup­pen sind taub und mei­ne abge­kleb­ten Bla­sen sen­den Schmerz­im­pul­se. Und ich bin glück­lich. Ein­fach nur glück­lich, glück­lich all das zu spü­ren, zu erle­ben, „durch­zu­ma­chen“ – ins­be­son­de­re nach einer Zeit der per­sön­li­chen Resi­gna­ti­on und damit ein­her­ge­hen­der Taubheit. 

Die letz­ten Kilo­me­ter tei­le ich mit Ste­fan H., einem Läu­fer aus Deutsch­land. Wir haben das glei­che Tem­po und bei­de viel zu erzäh­len; denn wir haben jeweils auf den getrennt zurück­ge­leg­ten 135 Kilo­me­tern wie­der rea­li­siert, wie sehr wir das wei­te Lau­fen lieben!

Wir spru­deln über, reden, als wären wir alte Freunde…und viel­leicht sind wir das auch. Jetzt zumin­dest. Denn Lau­fen hilft nicht nur, den Kopf klar zu bekom­men, es ver­bin­det auch. 

Trotz Müdig­keit nach inzwi­schen knapp 30 Stun­den „Frisch­luft­spa­zier­gang“ ver­spü­re ich fast so etwas wie Weh­mut – gemischt mit ganz gro­ßer Freu­de! Und Erleich­te­rung. Und…Moment, spü­re ich da etwa Emo­tio­nen, regen sich da Gefüh­le in mir?

Ja, etwa 30 Stun­den und 162 Kilo­me­ter spä­ter scheint mei­ne pan­de­mie­be­ding­te Gefühls­taub­heit in Bezug auf mich selbst, von der ich nicht ein­mal wuss­te, dass ich sie in mir trug, besiegte. 

Es heißt, der kür­zes­te Weg zu sich selbst führt ein­mal um die Erde und das mag rich­tig sein. In mei­nem Fall haben aber 100 Mei­len durch bel­gi­schen Matsch gereicht, um mich und mei­ne in Ver­ges­sen­heit gera­te­nen Gefüh­le wiederzuentdecken. 

Das soll jetzt weder eso­te­risch noch spi­ri­tu­ell klin­gen — es soll Euch ermu­ti­gen, da raus zu gehen und zu lau­fen, Euch mit Euch selbst und all dem zu beschäf­ti­gen, was wir in den letz­ten zwei Jah­ren erlebt und viel­leicht auch ver­drängt haben. Oder eben auch nicht. 

Das Lau­fen, das wei­te Lau­fen, das lan­ge Lau­fen, ist auf jeden Fall immer ein Teil der Lösung — egal wie die Auf­ga­be, die Fra­ge oder die Pro­blem­stel­lung sein mag. 

Denn wer weit läuft und dabei lan­ge mit sich und sei­nen Über­le­gun­gen allei­ne ist, der hat irgend­wann alle Gedan­ken gedacht, alle Sor­gen gesorgt… und genau dann pas­siert es:

Man erlangt einen Zustand der voll­kom­me­nen, men­ta­len Ent­span­nung und geis­ti­ger Klarheit. 

Hier ste­he ich also, nach 30 Stun­den und 8 Minu­ten irgend­wo süd­öst­lich von Brüs­sel mit stolz­ge­schwell­ter Brust, voll­kom­men matsch ver­schmiert und schmut­zig, mit einer rie­sen­gro­ßen, schwe­ren Medail­le um den Hals und füh­le mich so “rein”, leicht und wach wie schon lan­ge nicht mehr. 

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