For Women * For Life * For Freedom

ops

Sandra Mastropietro

31. Oktober 2022

Es treibt mich um, es lässt mich schlaflos. 

Kurz­um: Mein emo­tio­na­les “Schutz­schild” fiel mit den ers­ten Kopf­tü­chern im Iran.

#Iran­Pro­tests

Der Hash­tag #Iran­Pro­tests wur­de in den sozia­len Medi­en bis­lang mehr als 450 Tau­send mal benutzt. Das ist grund­sätz­lich erst ein­mal gut, richtig? 

Auf­merk­sam­keit, Zusam­men­rü­cken, welt­wei­tes Mit­ge­fühl …alles Eigen­schaf­ten, von denen unse­re Gesell­schaft eher ein Zuwe­nig, als Zuviel hat. Und doch schei­nen wir uns plötz­lich alle einig; unab­hän­gig von Her­kunft, Reli­gi­on und Geschlecht: 

Wir soli­da­ri­sie­ren uns mit der Bevöl­ke­rung im Iran. 

Die Geschich­te

for women for life for freedom
Pic from pixels by atiabii

Ich könn­te an die­ser Stel­le aus­ho­len, die Geschich­te des Iran beschrei­ben, der bis zur Revo­lu­ti­on 1979 sehr west­lich geprägt war… und dann, ja und dann kam das gro­ße Phä­no­men, das auch wir hier nur zu gut kennen.

Eine unzu­frie­de­ne Bevöl­ke­rung ent­schei­det sich, um dem ver­meint­lich gro­ßen Übel zu ent­ge­hen, in der Hoff­nung auf Ver­än­de­rung, für ein ‑wie wir heu­te wis­sen- noch grö­ße­res Übel… 

Übel, die bis­lang immer von Macht­ha­bern aus­gin­gen, die noch mäch­ti­ger sein wollten. 

Von Män­nern, die sich pro­fi­liert haben. Die in ihre eige­ne Tasche gewirt­schaf­tet haben, ihre Belan­ge vor alles ande­re, vor allem aber vor die der Bevöl­ke­rung gestellt haben. 

Und so wur­de der Iran in den 80iger Jah­ren also zur Isla­mi­schen Repu­blik und trieb sei­ne Bevöl­ke­rung tat­säch­lich somit sug­ges­tiv weg von der Reli­gi­on, hin zur noch grö­ße­ren Unzufriedenheit. 

Rufe nach Frei­heit, Nor­ma­li­tät und “Öff­nung” wur­den zuerst über­hört, dann erstickt. 

Zurück zum Hash­tag. #Iran­Pro­tests.

Für uns nichts beson­de­res. Für die Men­schen im Iran im schlimms­ten Fall ein Todesurteil. 

Unvor­stell­bar, oder? 

Wie es sich wohl anfühlt, sei­ne Mei­nung nicht frei äußern zu dürfen?

Kein Recht auf jeg­li­che Selbst­be­stim­mung zu haben? Wir wis­sen es nicht, zum Glück. 

Welch ein Glück, dass ein Umstand, auf den nie­mand von uns auch nur ein Fünk­chen Ein­fluss hat, uns zu Staats­bür­gern frei­er Län­der gemacht hat. 

Die jun­gen Men­schen im Iran wis­sen im Gegen­satz zu ihren Groß­el­tern nicht, was Frei­heit bedeu­tet. Sie haben aber sicher vie­le Geschich­ten davon gehört. 

Was sie geben können…

Und alles, was sie geben kön­nen, um für die­ses “unbe­kann­te Recht” zu kämp­fen, ist ihr Leben. Und das tun sie täg­lich. Vie­le Kin­der haben ihre Müt­ter ver­lo­ren, vie­le Eltern ihre Kinder. 

Ja, der Staat tötet sei­ne eige­nen Kin­der. Bru­tal, unkon­trol­liert und willkürlich.

Die obers­ten Macht­ha­ber hal­ten fest, denn sie wis­sen: Wenn die Isla­mi­sche Repu­blik fällt, fal­len auch sie. 

War­um muss ich jetzt an die fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on denken?

War­um wie­der­holt sich die Geschich­te immer wieder?

War­um sind wir Men­schen, angeb­lich intel­li­gen­te Lebe­we­sen, nur so dumm, so egoistisch.

Ja: immer wie­der kommt es dar­auf zurück…Egoismus. Machtfanatisch. 

Gegen­teil

Das gan­ze Gegen­teil dazu: Die Frau­en und die gesam­te jun­ge Bevöl­ke­rung des Irans, die täg­lich wei­ter laut ist. Nicht nur für sich, nein, für eine gan­ze Gene­ra­ti­on. Für einen gemein­sa­men Wunsch. 

Es ist schon fast selbst­los, was sie tun. Und es ist mutig. So mutig, dass ich Gän­se­haut bekom­me, nur wenn ich dar­an den­ke. So selbst­los und so stark, dass es mir immer wie­der feuch­te Augen beschert, wenn ich die Bil­der des kol­lek­ti­ven Pro­tests sehe.

Ich bewun­de­re die Frau­en und eben auch die Män­ner, die mit und für die Rech­te der Frau­en und der jun­gen Bevöl­ke­rung demons­trie­ren. Ich habe aller­größ­ten und tiefs­ten Respekt.

Und viel­leicht ist auch genau die­ser Respekt, den vie­le von uns offen­sicht­lich ver­spü­ren, genau der Grund, war­um die Bewe­gung im Iran zu einer inzwi­schen welt­wei­ten Bewe­gung gewor­den ist. 

Viel­leicht fragt sich jeder von uns ins­ge­heim, ob auch er/sie den Mut hät­te, unter die­sen gege­be­nen Umstän­den so zu reagie­ren. Sein Leben täg­lich neu aufs Spiel zu setzen. 

Viel­leicht rea­li­siert ein Groß­teil der hie­si­gen Bevöl­ke­rung durch die Miss­stän­de im Iran , dass der Pass des Geburts­lan­des nichts ist, wor­auf man pro­ak­tiv stolz sein kann… denn der wird einem wort­wört­lich mit in die Wie­ge gelegt. Mit allen Las­ten oder eben Frei­hei­ten; es ist ein biss­chen wie Glücksrad.

Viel­leicht rücken die Pro­tes­te im Iran nicht nur den Blick der Welt auf den Groß­teil der Lan­des­be­völ­ke­rung “gera­de”, son­dern auch die eige­ne Wahr­neh­mung über das Mit­ein­an­der vs. Gegen­ein­an­der. Über das Errei­chen von Zie­len, wenn man gemein­sam an einem Strang zieht.

Über Mut und Courage. 

Viel­leicht…

Viel­leicht sind die Pro­tes­te im Iran viel mehr als “nur die Pro­tes­te im Iran”. Viel­leicht sind sie ein Sym­bol der Zeit­wen­de. Viel­leicht ein Mahn­mal für uns alle. Ein Weck­ruf. Ein Appell. 

Eine “Ver­an­schau­li­chung” des Fak­tes, dass wir nur zusam­men etwas errei­chen kön­nen. Das Ego­is­mus die Wur­zel allen Übels ist. Das die Jun­gen es sind, die die Welt ver­än­dern wer­den, nicht mehr die Alten.

Ja, die Pro­tes­te im Iran zei­gen uns ein­mal mehr, dass der Groß­teil der Welt­be­völ­ke­rung das Herz immer noch am soge­nann­ten rech­ten Fleck hat, dass Weg­schau­en auf Dau­er nichts bringt und das Wer­te wie Empa­thie, Soli­da­ri­tät und Zusam­men­halt glück­li­cher­wei­se doch nicht so ver­küm­mert sind, wie es eini­ge Exper­ten pro­phe­zeit haben. Und das ist gut!

Lasst uns nicht weg­se­hen. Lasst uns wei­ter­re­den! Lasst uns noch mehr zusam­men­hal­ten. Lasst uns wütend sein, wütend auf die­se alten, ego­is­ti­schen und fei­gen Machthaber.

For Women. For Life. For Freedom

San­dra

Für die­je­ni­gen, die es inter­es­siert: Schon 2019, als ich im Iran war, hat­te ich ähn­li­che Gedan­ken. Hier die Ein­lei­tung mei­nes dama­li­gen Textes:

Von Stolz und Vorurteilen

Eine Woche allein mit dem Ruck­sack durch den Iran

Text: San­dra Mastropietro

Wo Stolz ist, da sind Vor­ur­tei­le. Und zu viel von bei­den war in mei­nem Kopf und mei­ner See­le ver­an­kert. Heu­te fra­ge ich mich: Wor­auf war ich eigent­lich stolz? Dar­auf, in einem frei­en Land zu leben, in dem das Gesetz die bei­den, bezie­hungs­wei­se inzwi­schen sogar drei Geschlech­ter, gleich stellt? Herz­li­chen Glück­wunsch, die­ses Pri­vi­leg wur­de einem jeden von uns hier wort­wört­lich in die Wie­ge gelegt. Das soll­te uns jedoch aus­schließ­lich dank­bar und nicht stolz machen. Aber ich schwei­fe ab, denn die­ser Arti­kel soll kei­ne Grund­satz­dis­kus­si­on dar­stel­len. Nein, es erwar­tet Sie weder ein Frau­en­rechts-Arti­kel, noch eine poli­ti­sche Mei­nungs­bil­dung. Was folgt, ist der Rei­se­be­richt einer allein rei­sen­den Frau durch den Iran. Die­se Frau bin ich. Und ich möch­te Sie an die Hand neh­men und mit Ihnen die Rei­se nach Per­si­en antre­ten; den ver­mut­lich 1001 Vor­ur­tei­len zum Trotz. 

Rumi, einer der bedeu­tends­ten per­si­schen Dich­ter, sag­te ein­mal: „Jen­seits der Vor­stel­lun­gen von Rich­tig und Falsch liegt ein Ort. Dort wer­de ich Dich tref­fen.“ Doch was ist rich­tig und was ist falsch? Plötz­lich sind da Fra­gen über Fra­gen in mei­nem Kopf, als die Anschnall­zei­chen der Air Iran Maschi­ne auf­blin­ken. Wir befin­den uns im Lan­de­an­flug auf Shiraz, eine Stadt im zen­tra­len Süden der Isla­mi­schen Repu­blik Iran. Was mich dort erwar­ten wird, das weiß ich nicht und ehr­lich gesagt habe ich auch kei­ner­lei Vor­stel­lun­gen davon. Was ich jedoch habe, ist ein mul­mi­ges Gefühl. Und wenn ich ehr­lich bin und den Stolz weg­las­se, dann hat­te ich viel­leicht auch ein biss­chen Angst. Angst vor dem Unbe­kann­ten, Angst vor dem Regime, Angst vor bösen Män­nern und vor Frau­en, die nur aus Augen, Hän­den und schwar­zen Stoff bestehen. 

Mit einem lau­ten Rum­peln setzt die Maschi­ne auf ira­ni­schem Boden auf. Als wir zum Ste­hen kom­men, beginnt all­ge­mei­nes Gewu­sel. Die Türen öff­nen sich in eine mir unbe­kann­te Welt. Ner­vös wicke­le ich das lan­ge Tuch aus dem Hand­ge­päck mehr­mals um mei­nen Kopf, ver­ban­ne jede Haar­sträh­ne und strei­fe mei­nen lan­gen Strick­man­tel trotz woh­li­ger Wär­me über. Laut Scha­ria, dem isla­mi­schen Gesetz, müs­sen Frau­en in der Öffent­lich­keit alle Kör­per­tei­le bis auf Hän­de, Füße und Gesicht bedeckt hal­ten. Das Gesäß muss dop­pelt bedeckt sein. Die auf­stei­gen­de Ner­vo­si­tät erstickt alle Frau­en­rechts­ge­dan­ken im Kei­me. Ein Feu­er­werk der Gefüh­le und Gedan­ken, wäh­rend ich mich unsi­cher in Rich­tung “Immi­gra­ti­on” bewe­ge. Goo­g­led man näm­lich “Ein­rei­se Iran”, liest man die wil­des­ten Din­ge. So suchen mei­ne Augen nach bewaff­ne­ten Män­nern, der berüch­tig­ten Sit­ten-Poli­zei und fins­ter­ge­sich­ti­gen Mul­lahs, wel­che mich ver­mut­lich über­wa­chen wer­den und bei der erst­bes­ten Gele­gen­heit aus­wei­sen. Doch so sehr ich auch suche, ich wer­de nicht fün­dig. Herz­lich­keit erfüllt die Ankunfts­hal­le; Sze­nen der Wie­der­se­hens­freu­de sowie ein bun­tes, geschäf­ti­ges Treiben.

Das “Wel­co­me to Iran Madam” des Grenz­be­am­ten reißt mich aus mei­ner Verwunderung.

“Wel­co­me to Iran” ruft auch eine Grup­pe ver­hüll­ter Mäd­chen und winkt mir freu­de­strah­lend zu. Ich win­ke zurück. Anmu­tig kom­men sie auf mich zu, fra­gen höf­lich, ob Sie mir hel­fen kön­nen. Wenig spä­ter ste­hen wir gemein­sam in einer Wech­sel­stu­be und ich lau­sche den fremd­ar­ti­gen Klän­gen der per­si­schen Spra­che, fra­ge mich, was sie wohl so ange­regt mit dem Ban­kier dis­ku­tie­ren. Die Ant­wort folgt prompt: Ich sol­le hier nicht mehr als 5€ wech­seln, der Kurs sei zu schlecht. Ich tue wie mir gehei­ßen und las­se mich anschlie­ßend von Sada, Yara und Ami­ra in ein gel­bes Taxi set­zen. Mit weni­gen Wor­ten instru­ie­ren Sie den Fah­rer, umar­men mich herz­lich und schon düse ich Rich­tung Innen­stadt. Beschämt. Nicht, weil ich als Frau in einem Land unter­wegs bin, in dem die Scha­ria die Rech­te als Frau stark ein­schränkt, son­dern weil ich abwä­ge, ob ich über­haupt schon 15 Minu­ten mei­ner Lebens­zeit pro­ak­tiv für Tou­ris­ten “geop­fert” habe. Die Fra­ge, wann ich einen von ihnen “Wel­co­me to Ger­ma­ny” begrüßt habe, ver­wer­fe ich schnell, zu schmäh­lich wäre die Ant­wort. Und wäh­rend mei­ne Augen­win­kel die kar­ge Land­schaft wahr­neh­men, regis­triert mei­ne Nase eine wun­der­ba­re Mischung aus Oran­gen und Rosen­was­ser. Ich bin im Iran, in Shiraz, der Stadt der per­si­schen Dich­ter und Den­ker. Sechs Tage habe ich Zeit, um in die cir­ca 1000 Kilo­me­ter nörd­lich gele­ge­ne Haupt­stadt Tehe­ran zu gelan­gen. Wie, was, wo und wann; das weiß ich noch nicht. Ich habe kei­nen Plan, will mich trei­ben las­sen. Das Land und die Leu­te erle­ben, mich durch­fra­gen, mit den Ein­hei­mi­schen essen und ganz viel Tee trin­ken und Bus fah­ren. Glück und Aben­teu­er­geist durch­flu­ten mei­nen Kör­per, mei­ne Lip­pen for­men unwei­ger­lich ein Lächeln. Mut steht am Anfang, Glück am Ende, denk ich noch. Dann schla­fe ich zu den ste­ti­gen Ruckeln des Shira­zer Rush-Hour Stop and Gos ein. 

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