“Die besten Reisen im Leben sind die, die Fragen beantworten, die du gar nicht gestellt hast.”
*Rich Ridgeway
Ich habe einmal gelesen, dass Schmerz über die Dauer der Zeit seine äußerliche Form verändert. Dass Tränen verebben und Wunden aufhören zu bluten. Und dass so mit jedem Tag ein Stückchen mehr der optischen Normalität hergestellt wird. Eine Normalität, die sicher nie wieder so sein wird wie vor den Tränen und vor dem Blut.
So verändert sich nicht nur Schmerz im Laufe der Zeit, sondern auch der Sinn mancher Ereignisse. Weil Ereignisse wie Landschaften sind: Sie wandeln sich je nach Standpunkt, von dem man sie aus betrachtet. Und so wird, da wo Schmerz ist, gleichzeitig auch immer wieder Hoffnung geboren. Und von dieser Hoffnung sollen meine nachfolgenden Zeilen handeln. Und Antworten auf Fragen geben, die niemand gestellt hat.
Wie alles begann:
“Die Achse des Bösen”, “Pulverfass Naher Osten” und “Terror-Allianz” waren Begrifflichkeiten für das Gebiet der arabischen Welt, mit denen ich aufgewachsen bin. Doch auf Rückfragen, was genau damit gemeint sei, konnte mir niemand so richtig Antwort geben.
“Da unten ist immer Krieg”, “die schießen sich die Köpfe weg” und “selbst ihre Kinder schicken sie an die Front.” wurde mir erklärt. Das Fragezeichen, das Unverständnis und auch die Neugier wuchsen mit jedem Gespräch der Erwachsenen über ebendiese Region, das ich als Kind verfolgte.
Von Fragen, auf die es keine Antworten gab
Wer oder was sind Mullahs? Warum müssen sich Frauen verschleiern und wieso sollten Menschen einer Region kollektiv böse und niederträchtig sein?
Vielleicht waren es die fehlenden Antworten und die offensichtliche Beklommenheit, mit welcher in meinem Umfeld über den damaligen Nahost-Konflikt gesprochen wurde, aber bereits damals verkündete ich bei einer Familienfeier mit stolzgeschwellter Brust und Entdeckergeist in der Stimme: “Wenn ich mal groß bin, reise ich dort hin und schaue mir diese Mullahs und diesen Saddam mal ganz genau an.”
Zuerst betretene Stille und Apathie, bis mir nach einer gefühlten Ewigkeit ein verlegenes Gelächter entgegenschlug, gefolgt von einem Kommentargewirr aus: “Bis du groß bist, haben die sich da unten schon weggeschossen” und “…dann werden sie auch Dich gefangen nehmen und töten.” Anschließend wurde das Thema gewechselt.
Circa 25 Jahre später
Eine Szene aus meiner Vergangenheit, die mir merkwürdig lebendig vorkommt, als ich gut 25 Jahre später den Flieger nach Erbil im Nordirak besteige.
Mein Versprechen von damals, den Mittleren und Nahen Osten zu bereisen, hatte ich bereits vor Jahren eingelöst und fütterte mit jeder erneuten Reise in das ehemalige und aktuelle Krisengebiet meine Begierde nach unkonventionellen Erlebnissen.
Das Puzzle komplettieren
Es gefiel mir, wenn die Welt um mich herum anders roch, anders schmeckte, anders klang und sich gar anders anfühlte. Und so webte ich im Laufe der vergangenen Jahre meinen eigenen Wandteppich aus Eindrücken und Erfahrungen, aus Begegnungen und Gesprächen, aus Geschmäckern und Gerüchen und fand zunehmend Gefallen daran, mein unvollkommenes Selbst in die Unvollkommenheit der Welt fallen zu lassen.
Genau dieser Unvollkommenheit zum Trotz begann ich ‑fernab vom Schönheitsstandard der restlichen Welt- ein Gefühl der persönlichen Vollkommenheit zu erlangen, das man nur aus vorangegangenen Mut, schlüssigen Antworten, einzigartigen Begegnungen und wundersamen Erfahrungen erlangen kann.
Plötzlich verstand ich, dass ein erfülltes Leben niemals am Standard von fesselnden Konvention und nach-außen-gelebten-Wohlstand gemessen werden kann, sondern an der Intensität der Erlebnisse, aus denen es sich zusammensetzt, aus den Begegnungen und dem Miteinander.
So komplettierte sich mein einst lückenhaftes Weltbild mit Puzzelteilen aus grellbunten Farben, extravaganten Nuancen von abstrakten Grautönen sowie unvergleichlichen Stilelementen der Begegnungen, in der meines Erachtens noch die Komponente des Iraks fehlte.
Ausblick:
Wie es mir dort ergangen ist, was ich alles erleben durfte und welche besonderen Begegnungen ich hatte, das berichte ich im Teil 2 meines Iraki-Kurdistan 2023 Artikel.