Lieber Leserinnen und liebe Leser,
In den letzten Jahren habe ich mir immer wieder neue Herausforderungen gesucht, die mich an meine physischen und psychischen Grenzen gebracht haben. Egal ob 100 Meilen Läufe, Etappenrennen oder selbstversorgte Tagesabenteuer: Auf die Frage, wie weit ich meinen Körper und Geist pushen kann, erfuhr ich immer einen gewissen Grad an persönlichem Wachstum als Antwort.
Und genau dieses Wachstum erhoffte ich mir auch vom Eiger250. Über 250 Kilometer durch beeindruckende Berglandschaft, technisches Gelände sowie über viele Höhen und Tiefen.
E250 — ready or not, here we come!
Es ist schwer, die Faszination und Extreme dieses Events in Worte zu fassen, aber ich möchte es zumindest versuchen.
Fangen wir damit an, dass das Format dieses Rennen nicht das der Alleinkämpfer ist, sondern ein Teambewerb. Entweder zu zweit oder zu dritt stellt man sich an die Startlinie in Grindelwald und läuft ins große Unbekannte. Und so taten es auch Marc und ich, Team #AlwaysUltra!
Mittwochmorgen, 8 Uhr. Der Startschuss fällt, und Marc und ich laufen los, bereit für das Abenteuer unseres Lebens. Der Eiger Ultra Trail E250, eine Strecke, die uns auf schwindelerregende Höhen und durch tiefe Täler führen wird, liegt vor uns.
Zuerst geht es leicht bergab, dann immer steiler bergauf, in Richtung Eiger Nordwand — der Sonne entgegen. Der Anfang einer langen, fordernden Reise — von der wir weder die Zeitdauer noch den Grad an Unbekannten abschätzen können. Wir wissen, es werden teilweise 10–15 Stunden zwischen den Verpflegungsstationen liegen: eine lange Zeit, um sich selbst zu versorgen. Eine verdammt lange Zeit, falls irgendwas nicht nach Plan laufen sollte.
Spoiler: Vier Tage, drei Nächte und unzählige Höhenmeter später stehen wir samstagnachmittags gegen 17:40 Uhr wieder an selbiger Stelle in Grindelwald. Auf dem Startbogen steht jetzt ZIEL. Ein Wort, welches in diesem Moment größer als das ist, was unser übermüdeter Geist erfassen kann.
Was wir in diesen fast 82 Stunden durchlebt haben, lässt sich schwer in Worte fassen. Über 260 Kilometer mit etwa 16.000 Höhenmetern, durch alpines Gelände, teilweise eisige Temperaturen in der Nacht und drückende Hitze am Tag, haben wir unsere physischen und psychischen Grenzen bis aufs Äußerste verschoben.
Das Warum
“Wer ein Warum hat, erträgt fast jedes Wie.” *Nietzsche
Warum tut man sich so etwas an? Diese Frage stellt sich nicht nur jedem, der selbst schon einmal an einem Ultratrail teilgenommen hat, sondern vor allem auch den Menschen im weiteren Umfeld, die eher wenig mit (diesem) Extremsport zu tun haben.
Oft wird gefragt, wovor man wegläuft, wieso man diese krasse Aufmerksamkeit sucht…
Und jedes Mal aufs Neue findet man sich vor einer Wand aus Klischees und Vorurteilen, die höher scheint, als jeder Berg. Vermutlich liegt es in der Natur des Menschen, Erklärungen für das Handeln der Anderen zu suchen und für Dinge, auf die man selbst keine Antwort findet, Erklärungen “herbeizuzaubern” — je vermeintlich verrückter das Handeln, desto negativer die Schlussfolgerungen.
Nichtsdestotrotz, auch für Marc und mich ist die Antwort auf diese Frage immer wieder ein freudiger Diskussionspunkt während des Laufens gewesen, denn das Warum ist ein essentieller Teil der konstanten Vorwärtsbewegung. Und so können wir rückblickend behaupten: Jeder Schritt, den wir gemacht haben, jede Stunde, die wir wach geblieben sind, hat uns ein Stück weit mehr zu uns selbst gebracht. Wir sind über uns hinausgewachsen und haben bislang unbekannte Grenzen verschoben.
Es ist dieses eine bestimmte Gefühl, das sich erst am Rande der Erschöpfung vernünftig wahrnehmen und sehr schwer in Worte fassen lässt: Man löst sich von allem, was sich als banal und alltäglich herausstellt, und lernt so die Essenz seines Seins kennen.
Der Umgang mit Schmerz
Was jedem Ultraläufer klar ist: Kein Ultratrail verläuft ohne Schmerzen, und da stellt der Eiger E250 in seinen besonderen Extremen keine Ausnahme dar. Blasen an den Füßen, Blessuren am Körper, ein von Müdigkeit gezeichneter Geist.
Man lernt, unter außergewöhnlichen Bedingungen zu funktionieren und vor allem mit seinem Körper zu kooperieren, Dinge zu fühlen und wahrzunehmen, die uns die Schnelllebigkeit und Bequemlichkeit des Alltages verlernen lassen.
Der Schlafmangel setzte uns ab Tag zwei überraschend arg zu. In drei Nächten schliefen wir insgesamt nur 110 Minuten. Unvorstellbar, nicht nur für alle, denen wir das erzählen, sondern auch rückblickend für uns selbst!
Wieso wir das so genau wissen?
Jedes Mal, wenn einer von uns unter dem Laufen einschlief (ja, es ist vollkommen abstrus, wenn der Laufpartner plötzlich abdriftet und im Gebüsch steht!), gönnten wir uns einen “Powernap” auf den Trails, an Ort und Stelle. Auf kiesigen Forststraßen oder im feuchten Gras auf ausgebreiteter Rettungsdecke. Unsere Schlafhygiene beim Eiger E250 ist im Nachhinein surreal, aber in dieser Situation genau die Strategie, die uns unsere Körper als die Beste signalisiert haben.
Extreme Bedingungen
Ein weitere Herausforderung waren die Temperaturunterschiede, die uns mitunter schwer zu schaffen machten. Während wir tagsüber in der prallen Sonne bei bis zu 38 Grad stundenlang dahinschmolzen, fielen die Temperaturen nachts bis knapp über den Gefrierpunkt..
Das technische Gelände tat sein Übriges: Steile Anstiege, felsige Abhänge und rutschige Wurzeln erforderten unsere volle Konzentration.
Doch volle Konzentration macht müde, vor allem über viele Stunden hinweg, vor allem an der frischen Luft, vor allem nachts…
Was uns trotz oder gerade wegen der fordernden Umstände immer wieder Hoffnung gab, waren die Menschen, die wir unterwegs trafen. Jeder Läufer, jeder Helfer und jeder Zuschauer begegnete uns mit unglaublicher Herzlichkeit, großem Interesse und ehrlichem Respekt. Jede uns entgegengebrachte positive Emotion bestärkte uns in unserem Glauben, das Ziel in Grindelwald zu erreichen.
Menschliche Begegnungen
Ausnahmslos alle, die wir auf dieser Reise trafen, waren unglaublich freundlich und bereit, zu helfen. Sei es mit einem aufmunternden Wort, einer helfenden Hand oder einfach durch bedingungslosen Zuspruch.
Und nicht zu vergessen mein Teampartner Marc. Unermüdlich oder besser gesagt; müde und trotzdem fest an meiner Seite; egal ob Navigationsprobleme, Kühe nachts, schlafend auf dem Singletrail, ein mentaler Tiefpunkt oder kaputte Füße. Er unterstützte mich und feierte mit mir jede kleine Etappe, die wir hinter uns brachten.
Finish
Und plötzlich war es da, in Sichtweite: Grindelwald. Nur noch einen Downhill entfernt. Ein Wechselbad der Emotionen, Überforderung mit der Gesamtsituation. Das Realisieren, dass man tatsächlich E250 Finisher sein wird… ein Klos im Hals, eine ganzer Steinbruch, der vom Herzen bröckelt…. große Gefühle. Tränen. Die Erfahrungen der vergangenen 82 Stunden haben uns nicht nur an unsere körperlichen und mentalen Grenzen gebracht, sondern auch jeden einzelnen von uns sowie als Team wachsen lassen.
Jeder Gipfel, den wir erklommen, jede Herausforderung, die wir gemeistert haben, zeigte uns, wozu wir fähig sind, wenn wir uns gegenseitig unterstützen und an uns glauben.
Müde, schmerzgeplagt, aber überglücklich – so liefen wir schließlich gemeinsam ins Ziel ein. Das Gefühl, es geschafft zu haben, die Endorphine, die durch unseren Körper strömten, das Adrenalin: Es war all die Mühen, die Schmerzen und die Erschöpfung wert.
Der Sinn hinter der Qual
Im Ziel, da war sie dann wieder, die Frage nach dem Warum. Von allen Seiten und auch von uns — an uns.
Die Antwort lag ganz überraschend nicht auf dem heißen Asphalt der FinisherArea; Sie lächelte uns fast schon höhnisch von der anderen Seite des Zielbogens an, den wir gerade durchquert hatten :
Es war nicht das Ziel, das uns immer weiter einen Fuß von den anderen setzen ließ, sondern die Reise – die Herausforderungen und Prüfungen, die uns lehrten, wer wir sind und wer wir sein können. Wir haben unsere Grenzen verschoben und einen Teamgedanken für immer in unser Herz geschlossen, welcher aus Schmerz und dem daraus resultierenden Triumph besteht.
Der Eiger Ultra-Trail E250 hat uns verändert. Wir sind nicht dieselben Menschen, die am Mittwochmorgen ausgebrochen sind. Wir sind stärker, widerstandsfähiger und haben eine neue Perspektive auf das Leben gewonnen. Und vielleicht ist das der wahre Grund, warum wir solche Abenteuer bestehen – um uns selbst zu definieren und zu erkennen, wozu wir wirklich fähig sind.
Eine Anekdote am Rande:
Nach insgesamt 267 Kilometern, mit blutigen Blasen an den Füßen und zwei gebrochenen Zehen, fand ich mich schließlich im Ziel auf der Medical-Liege wieder. Die Ärzte begannen, meine schmerzenden Füße zu behandeln, indem sie die Blasen aufstachen und die beiden gebrochenen Zehen ruhig stellten..
Doch der Moment war zu viel für meinen ausgezehrten Körper und meinen völlig erschöpften Geist, er gehörte wohl nicht mehr zur am Mittwoch begonnenen Reise. Noch während die Nadel die Haut der ersten Blase durchdrang, fielen mir die Augen zu, und ich schlief ein – dort, mitten in der Behandlung, völlig überwältigt von der alles verzehrenden Müdigkeit. Es war ein eindrücklicher Moment, der mir zeigte, welche unglaubliche Anstrengung hinter uns lag, und doch fand ich in der Ruhe dieses Augenblicks die Bestätigung für das, was wir erreicht haben.
Danke, dass ihr unsere Reise mitverfolgt habt. Euer Zuspruch und eure Unterstützung haben uns unheimlich viel Kraft gegeben. Bis zum nächsten Abenteuer!