100 Miles to Go — Ein ganz kurzer und sehr ehrlicher Bericht von ganz großer Langstreckenliebe!
„Man liebt das, wofür man sich müht, und man müht sich für das, was man liebt.“
Erich Fromm
100 Meilen. Das sind 160,934 Kilometer. Also eine verdammt lange Distanz. Etwa vom Süden Münchens bis kurz vorm Brenner, dem italienischen Grenzübergang. Warum sollte man diesen Weg zu Fuß zurücklegen, verrückterweise auch noch am Stück?
Eine Frage, deren ausführliche Erörterung den Rahmen dieses Berichtes sprengen würde. Daher folgende Kurzversion: Weil der menschliche Körper ein Wunderwerk und eine ‑bei richtiger Pflege- scheinbar unversiegbare Quelle von Kraft ist. Weil es unglaublich entspannend, ja gar “heilend” sein kann, viele, viele Schritte nacheinander zu setzen. Weiter, einfach immer weiter. Mit klaren Regeln, klaren Zielen und einem klaren Miteinander — also genau dem, was vielen von uns in den letzten zwei Jahren gefehlt hat: Klarheit. Und genau um diese Klarheit (wieder) zu erlangen und entsprechend mit dem Chaos im Kopf und Herzen aufzuräumen lief ich am 18.Dezember 2021 die 100 Meilen Distanz beim BelloGallico in Belgien.
Samstag, 18.12.21 um kurz vor 4 Uhr morgens: Wettkampfluft! Endlich wieder! Ich habe den Duft nach zu dünnem Filterkaffee, nervösen Mägen und Latschenkiefer wirklich vermisst. Gewusel: Schuhe binden, auf der Stelle hüpfen, um zu sehen ob auch alles sitzt…RaceModus! Also, zumindest insofern man von einem solchen am Start eines 100 Meilen Rennens davon reden kann. Während der Rennleiter letzte Streckendetails bekannt gibt und uns auf kräftezehrende Bedingungen durch extremen Matsch hinweist, richten sich die Kegel der Stirnlampen stur in die Dunkelheit. Die Armee ist mehr als bereit zu laufen, zu marschieren, zu leiden, zu fühlen!
“Three…Two…One… Good Luck!” sind die Worte, die den Tross in Bewegung setzen. Einen Schritt nach dem anderen. Immer wieder. Die für mich schönste Monotonie überhaupt. Kalte, klare Nachtluft füllt meine Lungen, der Duft von Moos und Wald meine Nase. Glück, pures Glück durchströmt meinen Körper. Laufen, nichts als Laufen — und das tun meine Beine gerade ganz von selbst, im Rhythmus der Stöcke am Boden und der Musik aus den Kopfhörern.
Mein Handy ist auf Flugzeugmodus und ich zelebriere den Luxus der Unerreichbarkeit, während das Dunkel der Nacht langsam dem Grau des Morgens weicht. Ein Läufer nährt sich von hinten, ruft euphorisch schmatzend “Good Morning young Lady, first night over — what for breakfast?” Ich muss lachen. Auf die Frage nach dem Frühstück war ich definitiv nicht vorbereitet und überhaupt; man ist es ja auch gar nicht mehr gewöhnt so unbedarft mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Schnell krame ich einen Riegel aus meinem Rucksack und proste ihm damit zu. Wir stoßen an und frühstücken miteinander, versuchen uns zu verständigen. Er spricht kein englisch oder deutsch, ich kein französisch oder niederländisch; klappt trotzdem. Wo ein Wille, da ein Weg: im Leben wie im Ultralaufen.
Alle 20 Kilometer werden wir „gefüttert“; sprich: Kommen wir an eine Verpflegungsstation: und die lassen sich sprichwörtlich „Nicht lumpen“. Käse-Sandwiches, Wraps (auf Wunsch sogar vegan), Kürbissuppe oder (vegetarische) Hot-Dogs. Ich schlemme, lasse mir an den Stationen viel Zeit und stelle bei Kilometer 60 fest, dass ich noch nicht ein Gel verwendet habe. Apropos Kilometer 60.
Hier begebe ich mich zum ersten Mal auf die Pritsche der Medicals und lasse meine Blasen abtapen. Regen ist zwar meiner Meinung nach bestes Laufwetter, aber auch die besten Socken können bei knöchelhohen Matschpfützen die Reibung der Sandkörnchen zwischen den Zehen nicht vermeiden.
100 Kilometer to Go. Bis auf die Blasen habe ich keine Ausfallerscheinungen, und auch wenn die Aussicht auf weitere hundert Kilometer im Matsch mit bereits mehreren Blasen nicht die angenehmsten sind, bin ich guter Dinge und muss unwillkürlich an Erich Fried denken:
„Es ist Unsinn – sagt die Vernunft
Es ist was es ist – sagt die Liebe
Es ist Unglück – sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz – sagt die Angst
Es ist aussichtslos – sagt die Einsicht
Es ist was es ist – sagt die Liebe
Es ist lächerlich – sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig – sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich – sagt die Erfahrung
Es ist was es ist – sagt die Liebe“
Ja, denn während um mich herum langsam schon wieder Nebel und Dunkelheit einsetzen, lichten sich meine Gedanken mit jedem Schritt mehr und mein pandemiegeplagtes Gemüht erhellt sich. Ich spüre sie ganz genau: Die Liebe zum Laufen, zum langen, ganz langen Laufen. Zum Extremen. Ich spüre das Kribbeln der Euphorie in meiner Magengrube, während die „To Go“ Kilometeranzahl abnimmt, irgendwann zweistellig und dann gar einstellig wird.
Die Nacht ist kalt und klar, der Wind pfeift über die Felder, meine Fingerkuppen sind taub und meine abgeklebten Blasen senden Schmerzimpulse. Und ich bin glücklich. Einfach nur glücklich, glücklich all das zu spüren, zu erleben, „durchzumachen“ – insbesondere nach einer Zeit der persönlichen Resignation und damit einhergehender Taubheit.
Die letzten Kilometer teile ich mit Stefan H., einem Läufer aus Deutschland. Wir haben das gleiche Tempo und beide viel zu erzählen; denn wir haben jeweils auf den getrennt zurückgelegten 135 Kilometern wieder realisiert, wie sehr wir das weite Laufen lieben!
Wir sprudeln über, reden, als wären wir alte Freunde…und vielleicht sind wir das auch. Jetzt zumindest. Denn Laufen hilft nicht nur, den Kopf klar zu bekommen, es verbindet auch.
Trotz Müdigkeit nach inzwischen knapp 30 Stunden „Frischluftspaziergang“ verspüre ich fast so etwas wie Wehmut – gemischt mit ganz großer Freude! Und Erleichterung. Und…Moment, spüre ich da etwa Emotionen, regen sich da Gefühle in mir?
Ja, etwa 30 Stunden und 162 Kilometer später scheint meine pandemiebedingte Gefühlstaubheit in Bezug auf mich selbst, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie in mir trug, besiegte.
Es heißt, der kürzeste Weg zu sich selbst führt einmal um die Erde und das mag richtig sein. In meinem Fall haben aber 100 Meilen durch belgischen Matsch gereicht, um mich und meine in Vergessenheit geratenen Gefühle wiederzuentdecken.
Das soll jetzt weder esoterisch noch spirituell klingen — es soll Euch ermutigen, da raus zu gehen und zu laufen, Euch mit Euch selbst und all dem zu beschäftigen, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt und vielleicht auch verdrängt haben. Oder eben auch nicht.
Das Laufen, das weite Laufen, das lange Laufen, ist auf jeden Fall immer ein Teil der Lösung — egal wie die Aufgabe, die Frage oder die Problemstellung sein mag.
Denn wer weit läuft und dabei lange mit sich und seinen Überlegungen alleine ist, der hat irgendwann alle Gedanken gedacht, alle Sorgen gesorgt… und genau dann passiert es:
Man erlangt einen Zustand der vollkommenen, mentalen Entspannung und geistiger Klarheit.
Hier stehe ich also, nach 30 Stunden und 8 Minuten irgendwo südöstlich von Brüssel mit stolzgeschwellter Brust, vollkommen matsch verschmiert und schmutzig, mit einer riesengroßen, schweren Medaille um den Hals und fühle mich so “rein”, leicht und wach wie schon lange nicht mehr.